manuelletherapie 2006; 10(4): 176-185
DOI: 10.1055/s-2006-927024
Fachwissen: Funktionelle Anatomie

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Bedeutung des Beckengürtels als Verbindung von Wirbelsäule und Beinen[1]

Teil 1Importance of the Pelvic Girdle as Conjunction between Spine and LegsA. Vleeming1
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Publication Date:
13 September 2006 (online)

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Einleitung

Die muskuloskelettalen Erkrankungen sind ein erheblicher Kostenfaktor für die moderne Gesellschaft, insbesondere die lumbalen Rückenschmerzen, deren Ursachen bislang nur wenig verstanden sind und deren Therapie oft erfolglos verläuft. Derzeit sind keine geeigneten Modelle zur Erklärung der unspezifischen Rückenschmerzen verfügbar, was u. a. auch an den Modellen selber liegen mag.

In den letzten Dekaden konzentrierte sich die Forschung bei den lumbalen Rückenschmerzen auf anatomische Strukturen, welche die Schmerzen verursachen und erklären könnten: eine Suche nach Schmerzquellen und weniger nach funktionellen kinematischen Beziehungen. Dabei würde aber ein funktioneller Ansatz zu einem besseren Verständnis der Ursachen von LWS- und Beckenschmerzen führen. Mit anderen Worten: wir müssen unser Wissen über die komplexen kinematischen Verknüpfungen verbessern, insbesondere über die Bedeutung der motorischen Kontrolle zur Optimierung der Körperfunktionen.

Zu Beginn unserer klinischen lumbopelvinen Studien wurden wir in unserer Forschungsgruppe durch unser eigenes, überwiegend die topographische Anatomie umfassendes Wissen behindert. Dieser Anatomiezweig wurde zur Kartierung und Einteilung des Körpers entwickelt. Komplexe Fragen, wie diejenige, warum derart viele Patienten unter lumbalen Rückenschmerzen leiden, oder wie Wirbelsäule, Becken und Beine als integriertes System arbeiten, lassen sich mittels der topographischen Anatomie nur unzureichend beantworten. Tatsächlich verwirrt die Zuordnung zu Wirbelsäule und Becken eher. Die „Wirbelsäulenmuskeln” sind ausgeprägt mit dem Becken und Bändern der Iliosakralgelenke (ISG) verbunden. Letztere liegen zwischen dem Os sacrum sowie rechtem und linkem Os ilium und sind somit ein Teil des Beckens. Offiziell werden die Beckengelenke und -bänder jedoch den Beinen zugeordnet. Klassifikationen wie Beine, Becken und Wirbelsäule können einen didaktischen Zweck erfüllen, behindern aber unser Verständnis der funktionellen Mechanismen, die in diesem Bereich wirksam sind.

Bei der Überprüfung der Literatur über Wirbelsäule und Becken erweckten die Studien des amerikanischen Therapeuten DonTigny [17] sowie von Bowen und Cassidy [9] unsere Aufmerksamkeit. Ersterer berichtete immer wieder, dass die ISG für ein Verständnis der Wirbelsäulenfunktion essenziell sind, während Bowen und Cassidy eine besondere Knorpelstruktur der ISG beschrieben. Allerdings finden sich in der Literatur keine weiteren Hinweise zum Verständnis der Mechanismen, die „unspezifische” lumbale Rückenschmerzen verursachen.

Wir konzentrierten unsere Untersuchungen zunächst auf die ISG-Funktion, da diese entscheidend an der Weitergabe des Gewichts von der Wirbelsäule an die Beine beteiligt sind. Das Becken wurde dabei als wichtigste knöcherne Plattform betrachtet, die mit drei Hebelsystemen verbunden ist: der Wirbelsäule und den beiden Beinen, die bei sich verändernden Bedingungen stabilisiert werden müssen. Neuere Studien zeigen, dass sich die ISG veränderten Belastungsverteilungen anpassen, indem sie sich unterschiedlich stark versteifen (Abb. [1] u. 2a-c). Dies war eine revolutionäre Aussage, da Gelenke allgemein dadurch charakterisiert sind, dass sie geschmeidig funktionieren. Neuere Untersuchungen erbrachten jedoch reichliche Belege dafür, dass die ISG ihre Festigkeit ebenso wie andere Gelenke auch bei sich ändernden Belastungen verändern können. Dieses Konzept ermöglicht einen anderen Ansatz zum Verständnis der Stabilisationsmechanismen des menschlichen Körpers in Ruhe und Bewegung und insbesondere der Ursachen lumbopelviner Schmerzen.

Abb. 1 Schematische Darstellung der Iliosakralgelenke mit Friktionsapparat.

Abb. 2 a-c Frontalschnitte des ISG bei männlichen Leichenpräparaten. Das S markiert die sakrale Seite des ISG. a u. b 12-jähriger Junge. c Über 60-jähriger Mann. Die Pfeile zeigen die einander entsprechenden Kanten und Furchen. Sie sind von intaktem Knorpel bedeckt, was durch anschließendes Öffnen der Gelenke bestätigt wurde.

Es liegen immer mehr Studienergebnisse vor, wonach die Beckenstabilität durch die gemeinsamen Funktionen von Wirbelsäule, Becken, Beinen und sogar Armen gewährleistet wird. Im Folgenden werden die Auswirkungen verschiedener Situationen, wie Stehen, Sitzen, Gehen und kraftvolle Rumpfrotation betrachtet. Abschließend werden die Entstehungsfaktoren von Beckengürtelschmerzen betrachtet.

1 Aus: Hildebrandt, Lendenwirbelsäule © Elsevier GmbH, Urban & Fischer Verlag München. Mit freundlicher Genehmigung der Elsevier GmbH.

Literatur

1 Aus: Hildebrandt, Lendenwirbelsäule © Elsevier GmbH, Urban & Fischer Verlag München. Mit freundlicher Genehmigung der Elsevier GmbH.

Dr. Andry Vleeming

Spine and Joint Center

Westerlaan 10

NL-301CK Rotterdam